Predigt zu Johannes 11, 17 – 44 Auferweckung des Lazarus

Das Geschwisterpaar Martha und Maria kennen wir schon aus dem Lukasevangelium[1] als sie unterwegs in einem Dorf Halt machen und Martha Jesus freundlich aufnimmt und ihn bewirtet, während Maria sich zu seinen Füssen setzt, um ihm zuzuhören. Sie hat, meint Jesus, den besten Teil erwählt und gilt seither als Verkörperung der kontemplativen Lebensführung im Kontrast zum aktiven Tun, das in Martha personifiziert ist. Die Polarität von Aktiv und Passiv, von Extraversion und Introversion durchzieht auch die gehörte Geschichte im Johannesevangelium in Bethanien, in der Nähe von Jerusalem.
Hier geht es um die Einstellung gegenüber dem Tod.

Lazarus, hebräisch Gott hat geholfen, ist krank. Man versteht, dass diese Krankheit, die tödlich ist und in den Augen Jesu doch nicht zum Tode sein soll. Unbegreifbar mutet es zunächst an, dass Jesus, anstatt unverzüglich ans Krankenlager seines eigenen Freundes zu eilen, wartet und wartet und gar nichts tut. Es sind für Maria und Martha furchtbare Stunden und Tage, in denen der Himmel sich gewissermassen wie verschlossen wölbt.

Wir kennen solche Phasen des Zögerns im Umgang miteinander oft genug. Womöglich finden wir unseren Freund oder eigene Freundin in einer schweren Krise, wir möchten helfen, doch wir begreifen zugleich, dass überhaupt nichts auszurichten ist. Alles Äussere wäre jetzt nichts weiter als eine Ablenkung. Wenn jetzt etwas zu machen ist, dann muss es sich ganz von innen her ereignen.

Unsere Seele verhält sich in diesem Punkte nicht viel anders als unser Körper, beide wissen im Grunde, was ihnen guttut, und sie organisieren sich selbst. Schlaf ist eigentlich nichts anderes als der Versuch, es dem Körper und der Seele selbst zu überlassen, sich zu beschaffen, was ihnen nach Entkräftung, nach Schwäche, nach Krankheit effektiv hilft.

Aber der Schlaf ist zugleich in einem alten mythischen Bild der Bruder des Todes. Seit Urzeiten hat man geglaubt, der Tod sei im Grunde nichts weiter als ein solches Einschlafen im Entschlafen. Aber Johannes geht es um eine bittere Korrektur des mythischen Trostes.

Jesus erklärt an dieser Stelle: doch ich gehe hin, um ihn vom Schlaf zu erwecken. Es geht um die Widerlegung einer bestimmten Weltsicht, die rein resignativ und umso verzweifelter dem Tod gegenübersteht.

Aufwecken, das ist soviel, wie es schon in der Heilung des Blindgeborenen[2] anklang: es gilt, etwas zu sehen, das über diese „Welt“ hinausreicht.

Wenn wir uns auf die Verzweiflung eines Menschen wirklich einlassen wollen, dann dürfen wir selbst keine Angst haben. „Du willst“, fragen die Jünger, nach Judäa gehen, wo doch Juden dich zu steinigen versuchten? Plötzlich spüren wir, was Aufwecken bedeutet: Es soll keine Irritation mehr durch die Angst vor dem Tod geben. Es geht um unsere Lebenseinstellung. Man kann einen Menschen nur Aufwecken, wenn man selber durchflutet ist von Angstfreiheit, von Zugehörigkeit zum Tag, von „Licht“, vom Vertrauen ins Licht. Und diese Entschlossenheit ist der Anfang, gewissermassen die Voraussetzung, um dem standzuhalten, was sich in Bethanien begeben wird.

Da warten die zwei Schwestern, Maria und Martha. Da hört als erste Martha, Jesus sei gekommen, und sie geht ihm entgegen, voller Schmerz, voller Kummer, mit einer Klage auf den Lippen, die ihren Glauben ebenso verrät wie ihre Verzweiflung: Wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. – Dieses unglaubliche Zu-Spät! Ein Mensch sucht die Nähe eines anderen, doch dieser versäumt es, innerhalb der erforderlichen Frist zu erscheinen, ist im entscheidenden Augenblick nicht anwesend.

Es gilt hier eine Entdeckung zu machen: Das, was wir sind, kann und wird uns niemand rauben. Das, was wir richtig vor uns sehen, lässt sich von aussen nicht zerstören, es gilt einfach in sich. Das ewige Leben wartet nicht bis nach dem Leben, es ist schon jetzt. Das ist das ganze Johannesevangelium: das Aufwachen jetzt, das Hinübergehen durch die Todesangst, durch die Todesschranke jetzt. Jesus ist ein zum Kristall gewordenes Leuchten Gottes unter uns Menschen. Eine gestaltgewordene Aufforderung, fast bis zum Sinnlosen etwas zu tun ausserhalb der gewohnten Ordnung. Die jenseitige Welt bricht in die uns vertrauten Zusammenhänge ein.

Es geht um die Frage, wie wir selbst uns verstehen: als blosse Kreatur dieses unseres Planeten – dann hat der Tod das letzte Wort über uns, oder ob wir unser irdisches Leben aufzunehmen versuchen wie vom Himmel her gesprochen, als etwas Gültiges und Wahres. So ist Jesus, dieser wie fremd in die Totenkammer unseres Lebens Gesandte.

Alles weitere geht dann scheinbar sehr schnell. Da hört auch Maria, Jesus sei gekommen, und nun steht sie schnell auf, Ihm entgegen und provoziert ein Missverständnis bei den Trauergästen, die meinen, sie gehe zum Grab mit dem Stein, um zu weinen. Alle Umstehenden werden am Ende ausdrücken: „So muss es bleiben, er stinkt bereits, ihn da herauszuholen wäre eine Zumutung. Also belassen wir’s beim Klagen.

 

Bevor dann Jesus mit kraftvoller Stimme in die Grabeshöhle das „Komm heraus“ ruft, als der, der mit Gott in Verbindung ist, offenbart wird, sehen wir Jesus gerade auch von seiner menschlich-empfindsamsten Seite.

Gleich zweimal wird dieses Ergrimmen in seinem Inneren erwähnt: embrimàstai, was eigentlich „schnauben, anschnauben und anfahren“ bedeutet. Es zeigt eine zornige Gemütsbewegung an: Zorn, Wut und Trauer über den Verlust des Freundes bedrücken Jesus. Auf dem traurigen Gang zum Grab des Freundes wird auch Jesus von der Dunkelheit des Todesgeschicks berührt. Das Grauen des Grabes wird hier nicht verschwiegen, die Härte des physischen Todes wird nicht verharmlost. Jesus ist den Menschen verbunden, ihrer Not nicht verschlossen und ist so auch solchen Gemütsbewegungen nicht enthoben.

 

In dieser Situation verweist er uns auf das Gebet, wie wir es am Ölberg vor seinem Tod in ergreifender Weise erleben. Jesus betet, weil er weiss, dass das Gebet die letzte Station vor dem Letzten ist. Das Gebet in der Aufrichtigkeit des Herzens ist das Menschenmögliche in der aussichtslosen Lage. Es ist das Heilmittel gegen alle Resignation, das Aushalten in der hoffnungslosen Situation. Hier ist die Geburtsstunde des wachsenden Vertrauens auf Gottes verändernde Macht.

 

Christus wird uns im selben Augenblick in dieser Geschichte von seiner menschlichen und göttlichen Seite gezeigt, weil beides zusammengehört. Christus ist der von Gott gesandte Lebensbringer, der vom Himmel herabgestiegen ist und der Welt das Leben bringt. Deshalb wird er Brot des Lebens (6,35, 48), das Licht des Lebens (8,12), und das Leben schlechthin genannt (11,25; 14,6). Aber die Göttlichkeit Jesu bekommt durch seine Menschlichkeit erst das Siegel der Wahrhaftigkeit und Echtheit, die Kraft der Überzeugung, die Macht des ansteckenden Vertrauens.

 

Die Göttlichkeit kommt ohne die Menschlichkeit nicht aus. Gott und Mensch gehören zusammen, wie sie in Jesus zusammengekommen sind. Deshalb sollen wir sein Ebenbild, sein Abbild, seine Ikone werden.

Das von Gott uns geschenkte Leben ist ein Leben mit Gott, das sich im Umgang mit den Menschen bewähren muss. Es gibt einige, heisst es, die gelangten zum Vertrauen auf ihn und mit Johannes müssten wir sagen: Sie ergreifen ihr Leben und erkennen, wozu es gut ist. Das ist in Wahrheit das ganze Leben Jesu und bildet den Grund seines Sterbens: in unsere Grüfte und Gräber steigt er herab, um die mit Leichenbinden Umwickelten herauszurufen[3].                   Amen.

 

Armin Mettler

Pfarrer an der ersten ökum. Kirche der Schweiz
CH-4112 Flüh SO
www.oekumenische-kirche.ch

[1] Lukas 10, 38 -42
[2] Johannes 9, 1-17
[3] Vgl. 1. Petrusbrief 3, 19